AHA-Erlebnisse sind keine Erfindung der Pandemie. In den Zahlen und Diagrammen unserer Studie Potenzialanalyse Organisation x.0 stecken beispielsweise einige davon. Drei Erkenntnisse darüber, wie Unternehmen und Verwaltungen sich organisatorisch aufstellen, möchte ich mit Ihnen teilen.
Aha 1: Die Entzauberung der flachen Hierarchien
Eine interessante Sache an Studien ist, dass sie oftmals den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufdecken. Die Mehrheit der befragten Entscheiderinnen und Entscheider (68 Prozent) geht beispielsweise konform mit der These, dass ein Hierarchieabbau Entscheidungen beschleunigt. Nachvollziehbar und sicherlich häufig richtig: Wenn die oder der Einzelne mehr Entscheidungskompetenz bekommt, muss nicht alles über den Schreibtisch der Chefs laufen.
Dennoch bestimmen hierarchische Strukturen immer noch die Arbeitswelt – vor allem in großen Organisationen. Jeder dritte Befragte in unserer Studie hält Hierarchien für dringend notwendig. Einfach, weil es durch sie gut läuft und weil die Erfahrungen mit flachen Hierarchien nicht immer positiv sind. Wenn es hart auf hart kommt, passiert nämlich oftmals Folgendes: Die Mitarbeitenden gehen eine Entscheidungsebene höher, und dann stauen sich die Entscheidungen dort. Stefan Kühl, Uni-Professor und Blogger, beschreibt zudem in unserem Managementkompass Organisation x.0, wie die gewünschte Harmonie flacher Hierarchien schnell in zeitraubenden Machtkämpfen mündet.
Aha 2: Lange Leinen können auch reißen
Die Idee der agilen, sich selbst organisierenden Teams ohne klassische Führungskraft ist dennoch verlockend. In den Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung – das belegen auch die Zahlen in der Studie – werden sicherlich noch nicht genügend Entscheidungsbefugnisse an Mitarbeitende übertragen. Es gibt auch die Entwicklung, dass die nachrückenden Generationen mehr selbst entscheiden und nicht nur ausführen wollen.
Doch lange Leinen können auch reißen. Die Auslagerung von Aktivitäten in autonome Teams hat schon dazu geführt, dass diese sich allzu weit vom Mutterschiff entfernt haben. Ist die Distanz zu groß, entstehen genau die Silos, die man an anderen Stellen unbedingt aufbrechen will.
Zudem belegen die Studienergebnisse die Erfahrung vieler Unternehmen, dass sich „Chefsein“ nicht für alle anordnen lässt und nicht jede oder jeder das möchte. Viele Beschäftigte schlagen bewusst eine Karriere ein, bei der sie sich im Schatten ihrer Führungskraft fachlich ausleben können. Sie verzichten von sich aus auf das planerische Drumherum wie die vielen Abstimmungsrunden und Richtungsdiskussionen oder das Steuern von Kollegen und Projekten.
Aha 3: Transformationsreisen enden gerne in Optimierungen
Insbesondere die Digitalisierung treibt die befragten Unternehmen in den Aktionsmodus, weil der Einsatz digitalisierter Arbeitsabläufe als Heilsbringer angepriesen wird. Die deutsche Industrie ist beispielsweise nicht nur Exportweltmeister, sondern im Vergleich zu anderen Branchen auch spitze im Umbauen. 42 Prozent der Unternehmen haben sich gerade frisch reorganisiert, weitere 39 Prozent stecken noch in den Projekten. Technologien wie Internet of Things, Robotic Process Automation, Künstliche Intelligenz und Blockchain bahnen sich den Weg tief in die Unternehmen. Die Erwartungen sind stets groß, die Effekte halten sich vielfach in Grenzen.
Kris Steinberg, Kenner der verarbeitenden Industrie von Sopra Steria Next, nennt als häufigen Grund dafür, dass die Auswirkungen auf die konkreten Arbeitsabläufe eines jeden Einzelnen schlecht oder gar nicht kommuniziert werden. Die Folge: Aus echten Reformen werden am Ende Optimierungen. Die Krux dabei: Viele Auswirkungen werden erst sichtbar, wenn tatsächlich etwas verändert wird. Kris stellt hierzu in einem Blog Post einen interessanten Lösungsansatz vor: die Simulation organisatorischer Umbauten an einem digitalen Zwilling. Dank vieler Daten und digitaler Prozesse ist das keine Utopie.
Kluge Organisationen sind durchlässig
Unter dem Strich bleibt Unternehmenslenkern nichts übrig, als eine individuelle Organisation für die Menschen und das spezielle Umfeld zu entwickeln. Ähnlich wie Trainerstäbe, die schauen müssen, welche Spielertypen welches System am besten beherrschen und wer bereit ist, ein neues Spielsystem anzunehmen. Welche Mitarbeitenden kann ich entwickeln, bei welchen Positionen muss ich auf dem Arbeitsmarkt tätig werden und in welcher Form muss ich das System an das Profil und Mindset der Mitarbeitenden anpassen?
Meine zentrale Erkenntnis lautet: Wir sollten uns viel intensiver die Schnittstellen vornehmen und für Durchlässigkeit und Transparenz sorgen. Alle sollten auf (fast) alles zugreifen können, und alle sollten potenziell mit jedem sprechen und zusammenarbeiten können.
Diese weniger definierte Organisation verlangt Führungskräften einiges ab. Sie sind die ersten, die die Komfortzone verlassen müssen. Sie müssen sich den Teams vor allem als Ermöglicher präsentieren, als Zuhörer, Fragensteller und Zusammenbringer. Sie müssen ein Regelwerk für Veränderung etablieren, an dem sich die Mitarbeitenden orientieren, aber trotzdem die für sie passenden Prozesse selbst bestimmen können.
Die zentrale Aufgabe wird zunächst sein, hineinzuhorchen, wie die Beschäftigen denken und wie bereit sie für welche Form von Veränderung und Zusammenarbeit sind. Danach wird sich entscheiden, was geht und was nötig ist. Nur so werden Chefs vorangehen, und wenn sie sich umschauen, werden ihnen die Mitarbeitenden folgen und nicht zurückbleiben. Die eine oder der andere wird sie vielleicht sogar überholen.
Ich wünsche Ihnen eigene Aha-Erlebnisse beim Durcharbeiten der Studienergebnisse sowie inspirierende Anregungen bei der Lektüre des Managementkompasses für Ihre eigene Organisation x.0.